Vortrag & Diskussion mit Prof. Dr. Detlev Claussen
Mittwoch, 17.04. – 19.30 s.t. – Melanchthonianum, Universitätsplatz
Vor mehr als sechzig Jahren publizierten Horkheimer und Adorno ihre Thesen zur kapitalistischen „Kulturindustrie“, die alle Kunst und alle Kultur in Warenform presst und nur noch Produzenten und Konsumenten kennt. Anfang der neunziger Jahre kommentierte Heiner Müller in einem ähnlichen Zusammenhang: „Am Verschwinden des Menschen arbeiten viele der besten Gehirne und riesige Industrien. Der Konsum ist die Einübung der Massen in diesen Vorgang, jede Ware eine Waffe, jeder Supermarkt ein Trainingscamp.“ Die in den letzten Jahren stattfindende Verschiebung hin zu sogenannten Reality-Formaten im Fernsehen lässt die Rede vom Trainingscamp in neuem Licht erscheinen. Denn massenmediale Formate wie das Dschungelcamp oder die zahlreichen Talentwettbewerbe scheinen Training für eine neue gesellschaftliche Situation zu bieten, in der Konkurrenz auf eine neue Stufe gehoben wird, und wo die offene Erniedrigung von Konkurrenten unvermittelter und unverschleierter sich durchsetzt, als jemals zuvor.
Und auch auf einer anderen Ebene ist von einer Zäsur zu sprechen. Das Internet hat das gesellschaftliche Leben auf allen Ebenen in noch nie dagewesener Stärke durchdrungen. Sogenannte soziale Netzwerke “digitalisieren” reale Beziehungen, permanente Erreichbarkeit und freiwillige Selbstentblößung auf facebook scheinen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu spiegeln. Der „shitstorm“ ermöglicht die anonyme Beteiligung am mächtigen und strafenden Mob, eine gefahrlose Möglichkeit der Befriedigung des narzißtischen Bedürfnisses aus dem heimischen Wohnzimmer. Und auch die „Halbbildung“ der Menschen verändert sich, die Möglichkeit des Abrufens von tagesaktuellem, historischem, enzyklopädischen Wissen zu jeder Zeit und überall, verbunden mit einem Verlust von individuell angeeignetem und internalisierten Wissen führt zu neuen Quantitäten und Qualitäten des “Meinens”. Detlev Claussen ist eingeladen, um diese Veränderungen zu kommentieren, Thesen zu Kulturindustrie und Halbbildung im 21. Jahrhundert zu formulieren und diese mit uns zu diskutieren.
*Prof. Dr. Detlev Claussen ist Publizist und emeritierter Professor für Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie an der Universität Hannover. Er studierte u.a. bei Horkheimer, Adorno und Habermas und gehört zu den wenigen Gesellschaftstheoretikern, die sich auch heute noch der Kritischen Theorie verpflichtet fühlen.