Als Studierendenrat sind wir geschockt über den islamistisch und nationalistisch motivierten Angriffskrieg des türkischen Regimes gegen die demokratische Konföderation in Rojava/Nord-Syrien. Es ist nicht zu akzeptieren, dass ein mit der Europäischen Union verbündetes NATO-Land hier zur Zerschlagung des (mit Israel) einzigen demokratischen Akteurs in der Region antritt und dabei insbesondere auf die Hilfe islamistischer Milizen zurückgreift. Wir würden gerne hoffen, dass die Bundesregierung bereit wäre ihren Kurs zu ändern, sehen aber im Moment vor allem das Gegenteil geschehen. Denn trotz Waffenembargo gibt es keine Unterstützung für die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), die zwischen den Diktaturen Erdogans und Assads, zwischen islamistischen und reaktionären Mörder*innen und dem iranischen Regime aufgerieben werden könnten.
Wir wollen uns aber nicht darauf beschränken, die Probleme auf der höchsten Ebene anzuklagen, sondern wollen auch auf den Beitrag der deutschen Hochschullandschaft zum Angriffskrieg hinweisen, da es mehrere Fälle für Parteinahme gegenüber der Seite des türkischen Regimes gibt. Zu nennen wäre hier beispielhaft eine Kooperation des „Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung“ (ZfTI) an der Universität Duisburg-Essen mit dem „Turkish Council of Higher Education“ (YÖK) bei einer Podiumsdiskussion, in der es ausgerechnet um die Integration geflüchteter Menschen in den akademischen Betrieb gehen sollte – trotz der Tatsache, dass seit spätestens 2016 immer mehr Oppositionelle aus der Türkei fliehen müssen. Schockierend ist an diesem Fall, dass vielen Akademiker*innen scheinbar nicht klar ist, wie das türkische Hochschulwesen seit dem autoritären Umbau strukturiert ist: Die YÖK ist als zentrale Hochschulbehörde verantwortlich für Massenentlassungen kritischer Wissenschaftler*innen und setzt eigenmächtig Dekan*innen und Rektor*innen ein – vielfach nur noch welche auf Linie der herrschenden AKP. (1) Ähnlich affirmativ und unkritisch geht es im rechtswissenschaftlichen Bereich der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zu, wo der Jura-Professor Stefan Talmon einen Lehrstuhl innehat und in seiner Nebentätigkeit bereits einen türkischen Politiker gegen den Vorwurf vertrat, er habe den Völkermord an den Armenier*innen auf illegale Weise geleugnet. Darüber hinaus hat er das Regime gegen Klagen vertreten, die die Freilassung des Oppositionspolitikers Selahattin Demirtas (HDP) erreichen sollten. Trotz Kritik von Menschenrechtsorganisationen hält der Professor an seinem Engagement fest, welches sich auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit niederschlagen soll. (2)
Allerdings findet sich Engagement für das rechte Regime auch auf anderen Ebenen, z.B. in Form öffentlicher Meinungsbildung und von Lobby-Arbeit. Hier hat leider die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ebenfalls ein Beispiel vorzuweisen: Prof. Dr. Johannes Varwick, der Inhaber des Lehrstuhls für internationale Beziehungen, führte in diesem Jahr bereits zwei Interviews zur dortigen Situation mit dem Deutschlandfunk, in denen er um Verständnis für das Regime wirbt. Im Juli-Interview sprach er sich sogar für leichtere Waffenexporte auf. (3) Im Zuge des gegenwärtigen Angriffskriegs sprach er im letzten Monat davon, dass die Interessen der Türkei „ein Stück weit berechtigt sind“ und davon, dass man auf die Türkei zugehen, ihre vermeintlichen „Sicherheitsinteressen ernster nehmen” sollte. Tatsächlichen Sanktionen erteilte er eine klare Absage. Hier zeigt sich die militaristische Logik, die die Zerstörung demokratische Strukturen zum Wohl der „Südostflanke“ des Westens akzeptiert und sogar legitimiert. (4) Und auch wenn wir als Studierendenrat nicht unsere Aufgabe darin sehen, eine Lösung für die komplexen außenpolitischen Probleme im Nahen Osten vorzulegen oder prinzipiell gegen militärische Interventionen sind, so sind wir doch schockiert über die klare Parteinahme für das Regime in der Türkei, welches von den genannten akademischen Institutionen und Personen unbedingt als Verbündeter des deutschen Staates propagiert werden soll. Dass mit den Kurd*innen nun diejenigen Kräfte, die wesentlich zum Sturz des IS beigetragen haben und von Islamist*innen verfolgt werden, nun Leidtragende dieser absurden Strategie sind, sollte darüber hinaus alle Demokrat*innen erschrecken.
Für uns ist jedenfalls offensichtlich, dass jetzt höchste Zeit ist, um für das demokratische Projekt in Rojava und gegen die Erdogan-Diktatur einzutreten. Wir begrüßen deshalb die regelmäßig auch in Halle (Saale) stattfindenden Demonstrationen für Rojava und die SDF und rufen die Studierenden zur Teilnahme auf. Darüber hinaus fordern wir die genannten Akteur*innen auf, ihre Position zur Unterstützung einer immer repressiver werdenden Diktatur, die auch vor Plänen zur „ethnischen Säuberung” nicht zurückschreckt, zu überdenken und ihrer Verantwortung im Sinne eines demokratischen Diskurses gerecht zu werden. Es ist notwendig über außenpolitische Entwicklungen und Handlungsmöglichkeiten, wie beispielsweise die Entsendung von Militär, zu debattieren, aber dies muss in einem Rahmen geschehen, der auf die Verbreitung von Menschenrechten setzt und nicht ihre Einschränkung und Negation. Das nahezu bedingungslose Eintreten für ein NATO-Partnerland im Kontext des türkischen Angriffskrieges, steht genau für Letzteres.
Verweise:
1. https://academicsforpeace-germany.org/2019/06/12/open-letter-to-german-academia/
2. http://fw.asta-bonn.de/?p=350377
3. https://www.deutschlandfunk.de/streit-um-waffenlieferung-die-nato-fliegt-auseinander.694.de.html?dram:article_id=454205
4. https://www.deutschlandfunk.de/tuerkische-syrien-offensive-schwere-krise-der.694.de.html?dram:article_id=460948