Egal ob an der MLU in Halle oder an anderen deutschen Hochschulen: Die Anteilnahme für die Opfer des Erdbebens in Kurdistan, in der Türkei und in Syrien war und ist zurecht groß. Deshalb unterstützen wir auch Spendensammlungen für die betroffenen Gebiete, gerade diejenigen, die von Studierenden selbst organisiert wurden. Dafür sind wir dankbar und denken auch, dass die Solidaritätsaktionen noch nicht abgeschlossen sein können, denn Nachbeben, Überschwemmungen und die aktuelle politische Lage machen weitere Hilfen notwendig.

Trotzdem, oder gerade deshalb, sehen wir in der deutschen Hochschulpolitik auch eine problematische Tendenz: So wurde an zahlreichen Hochschulstandorten für die türkische Katastrophenschutzbehörde Afet ve Acil Durum Yönetimi Başkanlığı (AFAD) gesammelt. Damit wollen wir selbstverständlich nicht den einzelnen Sammler*innen einen Vorwurf machen, wohl aber der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), die laut Aussagen der MLU-Rektorin Claudia Becker im letzten Senat die deutschen Hochschulen explizit dazu aufgerufen hat, für die AFAD zu sammeln. Damit folgte sie einer Bitte der Deutsch-Türkischen Universität in Istanbul (DTU Istanbul), an der aber ebenfalls regierungsnahe Autoritäten die Kontrolle übernommen haben (https://www.duz.de/beitrag/!/id/444/ploetzlich-ist-schluss).

Die AFAD untersteht dem türkischen Innenministerium. Damit wird sie von Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP)-Minister Süleyman Soylu direkt kontrolliert und wird den politischen Weisungen der Regierungen untergeordnet, genau wie das die Hochschulen in der Türkei mit Bezug auf die Hochschulbehörde YÖK werden. In diesem Sinne wurde vielfältig und völlig zurecht kritisiert, dass Kurdische und Alevitische Gebiete, also Gebiete marginalisierter Bevölkerungsgruppen, nach dem Erdbeben deutlich schlechter versorgt wurden. Dazu kommt, dass die insgesamt nur sehr schleppend angelaufene Katastrophenhilfe auch noch für Regierungspropaganda missbraucht wurde, z.B. in Form von AKP-Stickern und –Fahnen auf Hilfsgütern, die ohne diese nicht transportiert werden durften (https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/erdbeben-in-der-tuerkei-mit-dem-logo-der-akp-18676096.html).

Die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD ist in alle diese Sachen involviert, unterstützt oder initiiert diese selbst. Zuletzt hat die Nachricht die Runde gemacht, dass die mit Spendengeldern finanzierten Zelte für die Überlebenden vom Türkischen Roten Halbmond verkauft wurden (https://anfdeutsch.com/aktuelles/erdbeben-turkischer-roter-halbmond-verkauft-zelte-fur-opfer-36461). Es ist also davon auszugehen, dass es eine diskriminierende Praxis, Korruption und Unterstützung des AKP-Wahlkampfes für die am 14. Mai 2023 stattfindenden Präsidentschaftswahlen gibt (https://taz.de/Wahlkampf-in-der-Tuerkei/!5903444/). Dazu kommt, dass gerade in Kurdistan, also dem besonders betroffenen Gebiet zwischen den Staaten Türkei und Syrien, ein Angriffskrieg des türkischen Staates gegen das (kurdische) Autonomieprojekt Rojava stattfindet und dass es schon in der Vergangenheit zu einer völkerrechtswidrigen Invasion auf syrischem und irakischem Staatgebiet durch das türkische Militär gekommen ist, mit dem die AFAD als Regierungsbehörde ebenfalls verbandelt ist (https://www.fr.de/politik/kurden-tuerkei-syrien-rojava-invasion-ypg-ypj-nesrin-abdolah-91944321.html).

Wir sehen es als Aufgabe der deutschen Hochschulen, und damit natürlich auch unserer Universität, sich mit den vom türkischen Militär angegriffenen Menschen zu solidarisieren und eine tatsächliche zivile Hilfe in Kurdistan, in der Türkei und in Syrien zu unterstützen. Da das Thema weiterhin Aufmerksamkeit erhalten muss, hat die HRK nun die Pflicht, kritisch und wissenschaftlich darüber nachzudenken, wie eine Kooperation mit Menschen und Institutionen in autoritären Staaten aussehen kann, ohne die entsprechenden Strukturen zu unterstützen. Dabei geht es uns nicht darum, dass diese Kooperationen nicht möglich wären, aber sie müssen eben vorher kritisch bewertet werden, um dann eine begründete und verantwortliche Entscheidung zu treffen. In dem Fall wäre es richtig gewesen, zu einer Sammlung zum Beispiel für den Heyva Sor a Kurdistanê (Kurdischen Roter Halbmond) aufzurufen, wie es einige Studierendenschaften getan haben und immer noch tun (https://www.heyvasor.com/de/alikari/). Gerade vor den Wahlen in der Türkei, vor dem erneut drohenden Angriffskrieg auf die kurdische Selbstverwaltung und angesichts aller Kriege und Notlagen in der Welt, erwarten wir von den deutschen Hochschulen eine kritische Haltung, auch wenn sie der Regierungslinie nicht entspricht. Der HRK-Beschluss, auf Bitten der DTU Istanbul, weist diese große Verantwortung ab und wird nicht dem gerecht, was beispielsweise die geflohenen „Academics for Peace“ schon seit 2016 zum Umgang mit dem AKP-Regime fordern (https://www.academicsforpeace-germany.org/).